REZENSION Helmuth Schönauer

TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2046
Tirol für Fortgeschrittene
Ein Essay ist eine literarische Kunstgattung und als solche für Postings ungeeignet.
 

Einem Essay begegnet man als Leser nicht mit der Bemerkung „gefällt mir“, sondern man überlegt seine eigene Einstellung zum Thema anhand der aufgeführten Sachlage.
Das macht den Essay letztlich zu einem offenen Werk, das in gewisser Weise immer Recht hat. Alois Schöpf gerät für seine Bemerkungen auf den Titel „Tirol für Fortgeschrittene“, weil er die Verfasser von „Tirol für Anfänger“, Paul Flora und Hans Weigel, persönlich gekannt hat.
Er macht Fortgeschrittene daraus, weil sich alles weiterentwickelt hat und viele auch aus dem Land fortgeschritten sind.
Das unterscheidet die Fortgegangenen vom Autor, der nach ein paar Jahren in Wien wieder zurück musste ins Herz der Alpen und seither leidet oder flucht, sofern ihm nicht durch die Blasmusik gewisse Auszeiten gegönnt sind. Das schöne Konzept an diesem Fortgeschrittenen-Essay ist seine Verknüpfung von Aufklärung und persönlicher Fesselung.
Auf der persönlichen Achse erleben wir einen Ich-Erzähler, der sich als Intellektueller immer wieder ausgestoßen fühlt, und dessen Themen Sterbehilfe oder Trennung von Kirche und Staat permanent ignoriert werden. Selbst wenn er allen Landtagsabgeordneten ein persönliches Exemplar zur Diskussion zukommen lässt, bekommt er nicht einmal ein Muh zurück.
Diesem persönlichen Strang steht das Alphabet der Aufklärung gegenüber. In der Aufklärung werden verschiedene Sachlagen wissenschaftlich sortiert, ehe dann durch persönliche Anwendung so etwas wie Ideologie entsteht. (Das Alphabet ist übrigens das höchste Gut der Bibliothekare, die seit Jahrhunderten für Aufklärung zuständig sind!) Im Essay sind nun von Christlich, über Dorf, Erl, Jodeln, Katholisch, Medien, Tourismus bis hin zu Umwelt und Volksmusik tatsächlich Schlüsselbegriffe aufgearbeitet, die so etwas wie ein Tirol-Bild ergeben.
Dabei ist eine Sichtachse über die Musik freigelegt, wobei der Autor seine Arbeit als Dirigent und Promenadenmusikant durchklingen lässt, die zweite Achse entstammt aus dem Studium der Ethnologie und Religionswissenschaft, die den Autor bis ins tiefste Unterbewusstsein hinunter geprägt hat.
In der Anwendung muss sich ein musischer Mensch in Tirol mit allerhand Dilettanten, Eigenbrötlern und Konzertfreaks herumschlagen, wobei oft aufweckende Fragen entstehen, was geschieht mit Erl wirklich, wenn der Wagner-Kult durchgespielt ist?

Die Tirol-Sicht ist von einem unrunden Dorfleben begleitet, das in der Nähe der Hauptstadt leicht verschoben und provisorisch wirkt, weshalb rurale Floskeln immer unverfrorener ausgerufen werden, bis das Land unter einer postfaschistischen Agrarherrschaft zusammengeritten ist.
Das Land ist letztlich milde beschrieben, den Bewohnern wird zugetraut, dass sie intelligenter sind als ihre Rituale, die sie sich fallweise auf die Lederhose klopfen. Wenn das Land einerseits jedes Wochenende von Arlberg bis Zillertal mit Verkehr zugeschissen ist, und andererseits das Land der nächsten Flüchtlingswelle entgegenfiebert, dann sind unter dieser Anspannung der Künftig-Fortgeschrittenen die jetzt Fortgeschrittenen ziemlich edel bedient.

Der Essay zwingt geradezu, weiterzudenken, weit über eine Rezension hinauszugrasen und eigenes Konzept für die Zukunft zu entwerfen und auszusprechen. Der Essay ist ein wundersamer Gully, der alle Gedanken rund um das Buch herum ansaugt und zu einem Strom verdichtet. - Etwas Schöneres kann ein Essay nicht leisten!
Alois Schöpf: Tirol für Fortgeschrittene. Einige diagnostische Bemerkungen über das Herz der Alpen. Essay. Innsbruck: Limbus 2017. 189 Seiten. EUR 15,-. ISBN 978-3-99039-112-9. Alois Schöpf, geb.1950 in Lans, lebt in Lans. Helmuth Schönauer 15/07/17 Helmuth Schönauer | Öffentliches Bibliotheks- und Büchereiwesen | Universitäts- und Landesbibliothek Tirol | Innrain 50 | 6020 Innsbruck | This email address is being protected from spambots. You need JavaScript enabled to view it.